Gutachten zur Diplomarbeit


Der Rhythmus im Filmschnitt

Analyse der Blickverhaltens von Zuschauern unter Aspekten des Rhythmus“
eingereicht von Marcel Buckan


Erstgutachter Gerhard Schumm:

Wie wirken sich Änderungen an den Schnittstellen und der Einstellungsdauer auf den Blickverlauf - und damit natürlich auch: auf das Sehen, auf die Wahrnehmung - des Filmzuschauers aus?

Dieser Frage geht Marcel Buckan in seiner empirischen Studie nach.

Durch welche Momente Änderungen des Blickverhaltens entstehen, in welcher Weise es mit dem Interesse, den Wünschen, den Leidenschaften des Zuschauers verbunden ist, ob und wie es durch die filmische Narration, Stimmungen, Gefühle, visuelle Attraktoren beeinflußt wird - solche Fragen stehen in dieser Arbeit nicht zur Debatte.

Stattdessen konzentriert sich die Untersuchung auf exakt erfaßbare Momente: das Timing von Schnittstellen und die Dauer von Einstellungen in Beziehung zum Zeitpunkt von Blickänderungen. (S.37)

Auf der Grundlage dieser beiden Momente kann die globale Fragestellung vom Autor durch Einzelfragen spezifiziert werden:
  • Wie lange braucht der Zuschauer um auf eine Schnittstelle, d.h. auf ein neues Bildangebot mit verändertem Bildzentrum, zu reagieren?
  • Besteht eine Abhängigkeit dieser Reaktionszeit vom Alter oder dem Expertenstatus der Zuschauer?
  • Besteht eine Abhängigkeit dieser Reaktionszeit von der visospatialen Distanz der Bildzentren vor und hinter der Schnittstelle?
  • Gibt es eine personengebundene, individuell Blickfrequenz?
  • Besteht ein Zusammenhang zwischen Blickfrequenz und Schnittfrequenz?
  • Besteht ein Zusammenhang zwischen Blickfrequenz und Bewegungsintensitität im Bild?
  • Besteht ein Zusammenhang zwischen Schnittmetrik und Blickmetrik?
Zur Untersuchung hat der Autor aus einer eigenen und für das Vorhaben gut geeigneten Montagearbeit („Bestseller“, BRD 1996, Regie: Frank Kaminski / Schnitt: Marcel Buckan) ein Set aus filmischen Vorlagen hergestellt. Die zeigt er einem kleinen Sample von 23 Probanden, das in seiner Zusammensetzung nach Geschlecht und Alter relativ ausgewogen ist. Neun der Testzuschauer sind Filmexperten, insbesondere Schnittexperten; 14 Personen nicht.

Das filmische Vorlagenmaterial bestehend aus 11 Szenen ist auf die Fragestellungen abgestellt:

Sz 1: lange Plansequenz zum Testen des Blickverhaltens bei Material ohne Schnittstellen
Sz 2: 8 Einstellungen zum Testen des Blickrhythmus in Beziehung zum Schnittrhythmus
Sz 3: Einstellung mit Schwenk zum Test des Blickverhaltens bei diffusem pictoralen Bildaufbau
Sz 4: Einstellung mit „free exit“ zum Test des Blickverhaltens bei diffusem pictoralen Bildaufbau
Sz 5: Enthält 18 ins Metrum von 1200 msec gebrachten Einstellungen zum Test der Beziehung zwischen Einstellungsrhythmik und Blickrhythmik
Sz 6: Hohe Einstellungsfrequenz mit viel Bildbewegung und Weißblitzern zum Testen des Blickverhaltens bei schnell montiertem Material
Sz 7: Zwei lange Einstellungen im Anschluß an die dicht montierte Sz 6 zum Testen des Blickverhaltens bei ruhigen Schnittpassagen nach vorangehenden schnellen Passagen
Sz 8: Eine lange Einstellung, ruhige Bildbewegung. Test auf Blickverhalten bei ruhigem Shot
Sz 9: Eine lange Einstellung, keine Bewegung. Test auf Blickverhalten bei fehlender Bildbewegung
Sz 10: Action-Sequenz. Test auf Blickverhalten auf handlungsbestimmt schnellem Schnittrhythmus
Sz 11: Aktionslose Einstellung. Test auf Blickverhalten bei aktionsarmer Einstellung

Er arbeitet mit einem ökologisch validen Versuchsaufbau, bei dem die in ihrem Blickverhalten getesteten Filmzuschauer von der Meßapparatur nicht behindert werden. Die Blickmotorik der Zuschauer wird erfaßt, indem ein Infrarot-Lichtstrahl auf das Auge gerichtet und von einer Infrarotkamera aufgezeichnet wird. An der Cornea reflektiert der IR-Lichtstrahl, wohingegen die Pupille ihn weitgehend absorbiert. Die zwei Bezugspunkte Cornea-Pupille ermöglichen einem Computer die Auswertung und Registrierung der Augenbewegung, da sich die Stellung des cornealen Lichtreflexes zur Pupille nur durch eine Bewegung des Auges verändert, nicht jedoch durch eine Bewegung des Kopfs oder Körpers. Das Blickzentrum wird abschließend vom Computer als kleiner Kreis in das Videosignal des vorgeführten Films
insertiert. Film und visualisiertes Blickzentrum werden auf Video aufgezeichnet. Der Zeitverzug des Meßvorgangs (measurement delay) wird von der Firma mit kleiner als 6 msec angegeben. Der Autor kontrolliert das nach, indem er während des Kalibrierungsvorgangs die Augenbewegungen der Testperson und die als Kreis auf dem Computermonitor dargestellten Augenbewegungen zusammen in einem Bild aufzeichnet. Er ermittelt für die zeitliche Verzögerung der Blickpunkt-Insertierung ein Offset von 120 msec = 3 frames (S. 17, S. 33), um das er anschließend seine Meßwerte bereinigen kann. Die Meßgenauigkeit des Geräts erfaßt Augenbewegungen kleiner als 0,1°. Von den verschiedenen Blickbewegungen (Große Saccaden (> 2°) , Mikrosakkaden (< 2°), Augenfolgebewegungen, Gleitbewegungen, Nystagmus, Divergenz- und Konvergenzbewegungen) werden vom Autor nur die Sakkaden > 2° berücksichtigt. ( S.12 / S. 34) Lidschläge < 1000 msec = 25 frames werden interpoliert; Lidschläge > 1000 msec werden aus den Mittelwerten herausgerechnet 8S.34). Der Autor ist m.W. der erste, der dieses Verfahren für die Erforschung der Filmwahrnehmung verfügbar macht.

Die Auswertung erfordert vom Autor einen immensen und aufreibenden Arbeitsaufwand: jedes frame muß schriftlich auf der Basis des Timecodes bei jeder Testperson und jeder Vorlage einzeln erfaßt werden. Der Autor gewinnt daraus absolute Werte für Blickwechsel innerhalb einer Szene bei 11 verschiedenen Szenen und 23 Probanden. Die absoluten Zahlenwerte und anschließend die Mittelwerte werden zur grafischen Veranschaulichung in Excel-Tabellen umgesetzt.

Die Befunde des Autors auf die eingangs erwähnten Fragen:
  • Die vom Autor ermittelte Reaktionszeit ist sehr personenspezifisch und schankend. Die gemittelte Reaktionszeit liegt zwischen 4,4 und 7,5 frames.
  • Die Studie ergibt keinen Anhalt für eine Abhängigkeit der Reaktionszeit vom Alter. Verblüffenderweise ist die Testperson mit der höchsten Blickfrequenz in Szene 6 über 60 Jahre alt. Aber es findet sich eine schnellere Blickänderungsreaktion an Schnittstellen bei Filmstudenten.
  • Für eine Abhängigkeit dieser Reaktionszeit von der visospatialen Distanz der Bildzentren an der Schnittstelle liegen keine Befunde vor.
  • Die Studie belegt, daß Blickfrequenzen individualspezifischen Charakter aufweisen.
  • Hohe Schnittfrequenzen bedingen nach den Befunden dieser Studie geringe Blickfrequenzen
  • Keine verallgemeinerbaren Befunde für einen Zusammenhang zwischen Blickfrequenz und Bildbewegung
  • Eine metrisch montierte Einstellungsabfolge hat keine dauerhafte Auswirkungen auf Blickmetrik.
Ein Cutter untersucht montagetheoretisch fundamentale Fragestellungen mit intensivem, klarem Erkenntnisinteresse, wissenschaftlicher Akribie und Gründlichkeit unter Ausschöpfung der ihm zur Verfügung stehenden testmethodischen Möglichkeiten. Er verfaßt eine Arbeit mit beeindruckender Eigenständigkeit, kann sich durch keine Vorarbeiten abstützen und betritt unerschrocken theoretisches Neuland. Die Befunde werden unvoreingenommen, klug und sensibel interpretiert und sind hochinteressant, weil weitgehend kontraintuitiv: sie widersprechen in vielem, was man sich gemeinhin beim Filmschnitt so zusammenreimt (schnelle Schnitt - flinke Augenbewegungen usw.). Die Arbeit ist außergewöhnlich. Daher: sehr gut.



Die Diplomarbeit als PDF-Dokument zum Download